Das Flüchtlingslager in Zbąszyń

 

In der Nähe der Grenze angekommen, wurden viele Menschen auf offener Strecke zum Aussteigen gezwungen und ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen getrieben. In einigen Fällen gelang es den deutschen Bewachern, die Waggons direkt nach Zbąszyń zu schicken. Dort spielten sich in der völlig überfüllten Bahnhofshalle dramatische Szenen ab. Noch verzweifelter war die Lage der oft tagelang im Niemandsland Umherirrenden. Nachdem die ersten Transporte angekommen waren, hinderten die polnischen Behörden die Abgeschobenen daran, weiter ins Landesinnere zu reisen. Die 4000-Einwohner-Stadt Zbąszyń wurde somit über Nacht zu einem riesigen Flüchtlingslager. Die in Zbą-szyń Gestrandeten mussten noch mehrere Tage und Nächte im Bahnhof verbringen oder wurden notdürftig in früheren Militärställen und Baracken untergebracht. Mitarbeiter jüdischer Hilfsorganisationen waren die Ersten, die ihnen zur Seite standen. In den folgenden Wochen organisierten sie die Selbstverwaltung des Lagers.
Isaak Giterman, polnischer Direktor der internationalen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee, schrieb in einem Bericht:

 

»Wenigstens haben jetzt alle Menschen einen Strohsack, um darauf zu schlafen. Die Kinder und die Kranken bekommen jeden Tag Milch, es gibt genug Wäsche für jeden und einige erhalten Kleidung. Nach der anfänglichen Verzweiflung gibt es nun Diskussionsabende der zionistischen Jugend und Polnischunterricht. … Am bewegendsten war eine Bitte der Kinder, dass sich alle unter 16-jährigen in einem Raum zum Spielen treffen dürften.« *

 

TEMPORÄRE RÜCKKEHRERLAUBNIS UND WEITERE AUSWEISUNGEN
Die 1939 noch im Deutschen Reich lebenden Juden mit polnischen Pässen, mehrheitlich Frauen und Kinder, wurden gezwungen, bis zum 31. Juli 1939 ebenfalls auszureisen. Innerhalb dieser Frist erlaubten die deutschen Behörden den im Oktober 1938 Ausgewiesenen. eine Rückkehr für längstens zwei Wochen, um ihre persönlichen und geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. Ihre Wohnungen waren zu diesem Zeitpunkt meist schon aufgelöst und ‚arisiert‘ worden. Falls es statt inzwischen aufgelaufener Schulden noch Verkaufserlöse gab, so mussten sie auf ein ‚Liquidations-Conto polnischer Auswanderer‘ bei der Dresdner Bank eingezahlt werden.

 

AUFLÖSUNG DES LAGERS
Nachdem das Auffanglager Zbąszyń zunächst nicht ohne Erlaubnis verlassen werden durfte, ermöglichten die polnischen Behörden später die Weiterreise in andere polnische Orte. Als die deutsche Armee am 1. September 1939 Polen überfiel, befand sich nur noch eine kleine Gruppe von Flüchtlingen in Zbąszyń. In den folgenden drei Jahren geriet die Mehrzahl der im Oktober 1938 nach Polen Vertriebenen in die Maschinerie des Massenmords an den Juden in Osteuropa.
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* Bericht von Isaak Giterman zit. nach: Sybil Milton, The Expulsion of Polish Jews from Germany. October 1938 to July 1939. A Documentation, in: Leo Baeck Institute Year Book 1984, S. 169-199, hier S. 194f., Übersetzung Cordula Lissner.

Bildnachweis Obere Bildleiste: Scheune in Zbaszyn. Bildnachweis: Yad Vashem Digital Collections Nr. 62490.

Essensausgabe in Zbąszyń. Foto: Alte Synagoge Essen, Bestand Schauder.